* 16 *
Während Septimus durch die große goldene Tür gestoßen wurde, überquerte Gringe, der Hüter des Nordtors, gerade die niedrige Holzbrücke, die zum Palast führte.
»Guten Morgen, Miss«, grüßte er Hildegard, die Unterzauberin, die heute Morgen den Türdienst versah.
»Guten Morgen, Mr. Gringe«, antwortete die Unterzauberin.
»Na so was!«, rief Gringe. »Sie wissen, wie ich heiße?«
»Aber selbstverständlich, Mr. Gringe. Jeder kennt den Hüter des Nordtors. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Nun ja ... es handelt sich um eine delikate Angelegenheit, und ich habe nicht viel Zeit, denn ich habe Mrs. Gringe allein am Tor zurückgelassen. Sie ist zurzeit nervlich nicht ganz auf der Höhe, und selbst wenn sie ganz auf der Höhe ist, ist das Geldzählen nicht ihre Sache, deshalb muss ich fix wieder runter und ...«
»Und was kann ich für Sie tun?«, fragte Hildegard.
»Oh, ach ja, ich wollte eigentlich Silas Heap sprechen. Wenn es keine Umstände macht.«
»Aber ganz und gar nicht, Mr. Gringe. Würden Sie bitte da drüben Platz nehmen. Ich schicke sofort einen Boten los.« Hildegard ging hinüber zum Langweg und bimmelte mit einer kleinen silbernen Tischglocke, die auf einer alten Ebenholztruhe stand. Das Bimmeln hallte durch den leeren Korridor.
Gringe fühlte sich durch den Palast etwas eingeschüchtert. Er konnte nicht recht glauben, dass Silas Heap tatsächlich hier wohnte. Er musterte die Reihe goldener Stühle, auf die Hildegard gedeutet hatte. Sie hatten kleine, mit rotem Samt bezogene Sitzpolster und machten einen wenig vertrauenerweckenden, unbequemen Eindruck, und so eilte er weiter in die dunkelste Ecke der Halle, in der er einen Sessel erspäht hatte, der mehr Bequemlichkeit versprach. Das Möbel stand halb verborgen im Schatten, und darin saß, unsichtbar für Gringe, der alte Geist des ehemaligen Torwächters Godric und schlummerte friedlich.
»Nein!«, rief Hildegard scharf. »Nicht in den Sessel, Mr. Gringe!«
Gringe, der gerade Platz nehmen wollte, fuhr wie vom Teufel gebissen in die Höhe.
»Da sitzt schon jemand«, erklärte Hildegard.
Gringe, der in seinem ganzen Leben noch nie einen Geist gesehen hatte und nicht gewillt war, jetzt damit anzufangen, schüttelte traurig den Kopf. Es stimmte, was die Leute sagten: Oben im Palast waren sie alle nicht ganz richtig im Kopf. Deswegen gefiel es Silas Heap dort auch so gut.
Gringe atmete erleichtert auf, als Silas endlich kam, mit Maxie im Schlepptau. Silas war etwas zappelig und froh, dass ihm Gringe einen Vorwand geliefert hatte, sich davonzumachen. Marcia war da und suchte den Palast nach Septimus ab, weil der anscheinend eine Prüfung geschwänzt hatte. Silas bewunderte ihn dafür. Endlich benahm sich sein Sohn wie ein normaler Junge.
Gringe sprang auf wie ein Terrier beim Anblick eines Kaninchens. »Wo steckt er?«, fragte er Silas.
»Jetzt fangen Sie auch noch an«, erwiderte der. »Ich habe gerade Marcia erklärt, dass ich es nicht weiß. Außerdem ist das doch völlig normal. Ich persönlich mache dem Jungen überhaupt keinen Vorwurf, wenn er mal eine Prüfung versäumt.«
»Was für eine Prüfung?«, fragte Gringe verdutzt.
»Jedenfalls keine, die ich abgelegt habe, wenn ich mich recht entsinne. So wichtig kann sie also nicht sein. Aber was wollen Sie eigentlich von ihm? Hat er an der Zugbrücke Unfug getrieben? Eine Mutprobe gemacht? So sind Jungen nun mal.« Silas kicherte nachsichtig und dachte an die Zeiten, als er mit Freunden immer über die Zugbrücke rannte, wenn sie hochgezogen wurde. Gewonnen hatte der, der im allerletzten Moment absprang, ohne in den Burggraben zu plumpsen.
»Mutprobe?«, fragte Gringe, der wieder einmal das Gefühl hatte, auf einem anderen Planeten als Silas Heap zu leben. »Geht Simon den Leuten jetzt auch noch mit Mutproben auf die Nerven? Nicht dass mich das überraschen würde, ganz und gar nicht. Wo der Junge hinkommt, gibt’s nur Ärger.«
Jetzt war es an Silas, verdutzt zu gucken. »Simon?«, fragte er.
Aber Gringe ließ sich nicht beirren. »Hören Sie, Heap. Ich möchte nur wissen, wo Ihr Simon steckt.«
»Tja, möchten wir das nicht alle?«, gab Silas zurück.
»Schon, aber mein Rupert ganz besonders. Er hängt nämlich sehr an seiner kleinen Schwester, mein Rupert, und jetzt ist sie schon wieder mit diesem Nichtsnutz durchgebrannt...«
»Durchgebrannt? Mit Simon?«, fragte Silas, der allmählich Gringes Ansicht teilte, dass sein ältester Sohn ein Nichtsnutz sei. »Wie ist das passiert?«
»Wie, weiß ich nicht. Wenn ich es wüsste, hätte ich es verhindert.«
»Tut mir leid, Gringe«, sagte Silas, der es satt hatte, für Simons Missetaten verantwortlich gemacht zu werden, »aber ich weiß nicht, wo Simon steckt. Und es tut mir leid, dass Ihre Lucy sich immer noch mit ihm einlässt. Sie ist ein nettes Mädchen.«
»Ja, das ist sie«, erwiderte Gringe, dem der Wind aus den Segeln genommen war. Eine Weile standen die beiden betreten in der Eingangshalle des Palastes. Dann sagte Gringe: »Na, dann mache ich mich mal wieder auf den Weg. Haben Sie ein wachsames Auge auf Ihre Jenna, solange Simon hier herumschleicht.«
»Jenna ...«, sagte Silas. »Das ist merkwürdig. Die habe ich den ganzen Morgen noch nicht gesehen ...«
»Nicht? Nun, dann würde ich sie an Ihrer Stelle suchen. Ich muss los. Wenn Sie Lust haben, sehen wir uns später auf eine Partie. Ich kann Ihnen einen Satz Figuren leihen.«
»Vielen Dank, Gringe, aber ich habe jetzt meinen eigenen Satz«, erwiderte Silas naserümpfend, und in Erinnerung an Sarahs Worte setzte er hinzu: »Hören Sie, wie wär’s, wenn Sie zu mir kommen? Das wäre mal was anderes.«
»Ich? Zweimal an einem Tag hinauf in den Palast? Na gut.« Gringe kicherte. »Danke, Silas.«
Silas begleitete ihn zum Palasttor. »Dann also bis später«, sagte Gringe.
Silas winkte ihm nach, dann ging er mit Maxie los, um Jenna zu suchen.
Silas hatte bei der Suche nach Jenna ebenso wenig Glück wie Marcia, die mit Alther durch den Langweg hastete. Sie riss eine Tür nach der anderen auf, rief »Septimus? Jenna?« hinein und knallte die Tür wieder zu, bis Alther es nicht mehr ertragen konnte.
»Hier ist etwas faul«, sagte er zu ihr.
»Oberfaul, Alther. Septimus? Jenna?« Rums!
»Ist doch eigenartig, dass auch Jenna wie vom Erdboden verschluckt ist.«
»Ganz recht. Sehr eigenartig. Septimus? Jenna?« Rums!
»Marcia, ich muss mal kurz weg. Ich möchte mit jemandem über die Sache reden.«
»Reden hilft jetzt auch nicht weiter, Alther. Ich habe mir den halben Morgen das Gerede dieser Nervensäge von Obermagieschreiberin angehört, das reicht für den Rest meines Lebens – und alles nur dummes Zeug. Ich muss Septimus sofort finden. Septimus? Jenna?« Rums!
Alther überließ Marcia ihren Türen und flog den Langweg entlang. An dessen Ende angekommen, schwebte er zu dem Turm auf der Ostseite des Palastes, schraubte sich die Wendeltreppe hinauf, verharrte einen Moment auf dem obersten Treppenabsatz und sammelte seine Gedanken. Er war etwas nervös. Er klopfte sein Gewand ab, was an dessen Aussehen natürlich überhaupt nichts änderte, und zupfte an seinem Bart. Dann holte er tief Luft, nahm eine für ihn ungewöhnlich respektvolle Haltung an und schritt langsam durch die Wand in das Königinnengemach.
Die Königin sprang auf.
»Bitte um Vergebung, Euer Majestät«, sagte Alther ziemlich förmlich und neigte leicht den Kopf.
»Die können Sie haben, Alther«, erwiderte die Königin mit einem Schmunzeln, »wenn Sie mir sagen, was Sie zu mir führt. Und reden Sie mich um Himmels willen nicht mit Eure Majestät an. Einfach Cerys genügt. Ich bin nur ein Geist wie Sie, Alther. Ich bin keine Majestät mehr.« Sie seufzte.
»Ich würde gerne wissen, ob Sie heute Morgen zufällig Ihre Tochter gesehen haben.«
Die Königin lächelte liebevoll. »Ja, in der Tat.«
»Aha. Und sie wollte zu Tante Zelda, nicht wahr?«
»Dann wissen Sie also auch von dem Königinnenweg, Alther? Er ist wohl die längste Zeit ein Geheimnis gewesen.«
»Ihr Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben. Hatte Jenna zufällig den Außergewöhnlichen Lehrling mitgenommen?«
»Er war bei ihr. Ein hübscher Junge. Sie sind gut unterrichtet, wie immer. Das habe ich seit jeher an Ihnen bewundert. Ihnen scheint nichts zu entgehen.«
»Dann hat sie Septimus also mitgenommen? Nun, das erklärt alles. Haben Sie vielen Dank, Cerys. Ich eile zu Marcia und sage ihr, dass sie aufhören soll, alle verrückt zu machen.«
»Die liebe, gute Marcia«, sinnierte die Königin. »Sie hat meine Jenna gerettet, müssen Sie wissen.«
»Ich weiß«, sagte Alther. Sie verfielen in Schweigen und gedachten des Tags, an dem sie beide ins Geisterdasein eingetreten waren, bis Alther sie jäh aus der Träumerei riss. »Ich muss weiter. Vielen Dank.«
Im Gehen wandte er sich noch einmal um und sagte: »Hören Sie, Cerys, Sie sollten häufiger an die Luft gehen. Es tut Ihnen nicht gut, wenn Sie sich die ganze Zeit hier oben im Turm verkriechen. Und Sie sollten darüber nachdenken, ob Sie der jungen Jenna nicht erscheinen wollen. Ich weiß, das ist eine schwierige Entscheidung, aber...«
»Ich werde ihr erscheinen, wenn die Zeit dafür gekommen ist, Alther«, erwiderte die Königin in leicht scharfem Ton. »Eine Prinzessin muss gewisse Dinge selbst herausfinden und beweisen, dass sie würdig ist, Königin zu werden – so wie es auch ich einst musste. Und bis es so weit ist, bleibe ich hier und bewahre den Königinnenweg vor Schaden. So hat es meine Mutter für mich getan, und so wird es auch Jenna für ihre Tochter tun.«
»Du liebe Güte, Cerys. Bis dahin ist es noch lange hin, wie ich hoffe.«
»Das hoffe ich auch. Aber man muss unablässig auf der Hut sein. Auf Wiedersehen. Bis zu unserer nächsten Begegnung ...« Die Königin sank zurück in ihren Sessel am ewig brennenden Feuer, und Alther wusste, dass die Audienz beendet war. Mit einem unbestimmten Gefühl der Unzufriedenheit entschwebte er durch die Mauer, aber erst später kam ihm zu Bewusstsein, dass die Königin auf keine seiner Fragen eine klare Antwort gegeben hatte.
Alther eilte zu Marcia, um ihr zu sagen, dass sie mit dem Türenschlagen aufhören könne, da Jenna mit Septimus bei Tante Zelda sei. Er fand sie vor Jennas Zimmer im Streit mit Sir Hereward.
»Wenn Sie jetzt nicht zur Seite treten, Sir Hereward«, drohte Marcia dem Geist gerade ungehalten, »sehe ich mich gezwungen, durch Sie hindurchzugehen, damit das klar ist.«
Der alte Ritter schüttelte bedauernd den Kopf. »Bitte vielmals um Entschuldigung, Eure Erhabenheit, aber die Prinzessin hat mich ausdrücklich angewiesen, niemanden in ihr Zimmer zu lassen. Und das gilt bedauerlicherweise auch für Sie. Ich bin untröstlich, aber...«
»Ach, hören Sie auf, sich zu entschuldigen, Sir Hereward. Ich muss sie dringend sprechen. Auf die Seite, sofort!«
»Uff!« stöhnte Sir Hereward auf, als die scharfe Spitze ihres lila Pythonschuhs seinen gepanzerten Fuß rücken durchbohrte.
»Marcia!«, rief Alther scharf. »Dazu besteht keine Veranlassung. Nicht die geringste. Sir Hereward tut nur seine Pflicht. Jenna ist nicht in ihrem Zimmer, sie ist mit Septimus zu Besuch bei Tante Zelda.«
»Was?« Marcia blieb stehen, den Fuß immer noch fest auf Sir Herewards Fuß. Der Ritter zog seinen weg, dann zückte er sein Schwert, hielt es quer vor die Tür und bedachte Marcia mit einem vernichtenden Blick.
Marcia trat zurück. »Aber ... aber warum um alles in der Welt ist sie mit Septimus zu Tante Zelda? Alther, das ist furchtbar. Septimus darf heute nicht von meiner Seite weichen, er schwebt in großer Gefahr. Und Jenna sollte besser in der Burg bleiben, dass wissen Sie genauso gut wie ich. Bei der Reise durch die Marschen kann ihnen alles Mögliche zugestoßen sein. Was haben sich die beiden nur dabei gedacht?«
Alther schielte zu Sir Hereward, unschlüssig, ob er in der Gegenwart des alten Ritters sprechen konnte, doch der wusste, wann er sich gleichsam in Luft aufzulösen hatte, und blickte taktvoll zu Boden. Dennoch nahm Alther Marcia am Arm und führte sie ein Stück den Gang hinunter. Mit Schrecken bemerkte er, dass sie zitterte.
Sowie sie außer Hörweite des Ritters waren, sagte er: »Äh ... sie sind nicht durch die Marschen gereist, Marcia. Es gibt noch einen anderen Weg.« Er fühlte sich unbehaglich. Der Königinnenweg war ein Geheimnis, das von den Königinnen und ihren Nachkommen gehütet wurde. Vor vielen Jahren, als er selbst noch Außergewöhnlicher Zauberer war, hatte er ihn zufällig in der Hüterhütte entdeckt, als er Betty Crackle, Tante Zeldas Vorgängerin, suchte. Betty hatte den Eingang offen gelassen, und ehe er sich versah, stand er im Königinnengemach vor Königin Matilda, Cerys’ furchteinflößender Großmutter. Heute dachte er mit Grausen daran zurück. Er war bald darauf in die Hüterhütte zurückgekehrt, doch zuvor hatte ihm Königin Matilda das Versprechen abgenommen, das Geheimnis des Weges niemals preiszugeben.
»Aber die Route über Port ist auch nicht besser, Alther.«
»Sie sind auch nicht über Port gereist, Marcia. Sie haben einen Weg genommen, der schneller und sicherer ist.«
Marcia kannte ihren alten Lehrer gut genug, um zu merken, wenn er ihr etwas verheimlichte. »Sie wissen etwas, stimmt’s?«, fragte sie. »Sie wissen etwas und wollen es mir nicht sagen.«
Alther nickte. »Es tut mir leid, Marcia, aber ich habe geschworen, niemals darüber zu sprechen. Es ist ein Geheimnis der Königinnen.«
»Aber Septimus kennt es offensichtlich«, sagte Marcia.
»Ja«, stimmte Alther zu. »Septimus scheint eben anders zu sein.«
»Das ist ja das Dumme«, erwiderte Marcia in einem Ton, der für Alther verdächtig nach Panik klang. »Er ist anders. Er ist so anders, dass er mir vor fünfhundert Jahren einen Brief geschrieben hat.«